Erneuter Betrug? – Seymour Hersh, die Welt und der Chemiewaffenangriff auf Chan Scheichun
Hinweis: Es handelt sich um eine Übersetzung, bei Unklarheiten ist der englische Originaltext heranzuziehen. Da der deutschsprachige Artikel der Welt am Sonntag nicht frei zugänglich ist, beziehen sich im Folgenden alle Verweise und Aussagen auf die frei zugängliche englische Version des Textes von Seymour Hersh. Zitate werden in deutscher Übersetzung frei wiedergegeben, für die Originaltexte sei auf die englischsprachige Version des Artikels verwiesen.
Am 26.06.2017 veröffentlichte die deutsche Zeitung Welt am Sonntag den neusten Artikel von Seymour Hersh. In diesem Artikel widerspricht er den „Mainstream“-Narrativ vom Chemiewaffenangriff auf Chan Scheichun vom 04.04.2017. Dieser Bombenangriff durch die syrische Luftwaffe, bei dem mutmaßlich Sarin gegen die lokale Bevölkerung eingesetzt wurde, führte zu der Entscheidung des US-Präsidenten Trump, einen Angriff mit Marschflugkörpern auf einen syrischen Luftwaffenstützpunkt anzuordnen.
Hersh präsentiert, wie bereits bei seinen letzten Artikeln, eine andere Version der Ereignisse und behauptet, die etablierte Geschichte sei falsch. Erneut stellt eine sehr geringe Zahl von anonymen Quellen das Fundament für Hershs Aussagen dar. Weitergehende Belege für seine Behauptungen werden von ihm nicht präsentiert. Informationen und Belege, die seiner alternativen Erzählung widersprechen, werden von ihm entweder ignoriert oder verworfen.
Es handelt sich nicht um den ersten Chemiewaffenangriff in Syrien, für den Hersh eine alternative Geschichte präsentiert, die auf einer Handvoll anonymer Quellen basiert. In seinen längeren Artikeln „Whose sarin?“ und „The Red Line and the Rat Line“ für London Review of Books, stellt Hersh die These auf, dass es sich bei den Sarin-Angriff vom 21.08.2013 in Damaskus um einen „False-Flag“-Angriff handelte, der die Intention gehabt haben soll, die Vereinigten Staaten in den Syrien-Konflikt hineinzuziehen. Hershs These hielt keiner echten Überprüfung stand, weil er viele der vorhandenen Informationen um die Angriffe einfach ignorierte, dabei auch die Komplexität der Herstellung und des Transportes von Sarin außer Acht ließ und mangelndes Verständnis der etablierten Fakten über den Angriff zeigte.
Hershs neuer Artikel wiederholt genau dieses Verhaltensmuster. Der überwiegende Teil des Artikels scheint auf den Informationen einer anonymen Quelle zu basieren, die von Hersh als ein Senior-Berater für die amerikanische Nachrichtendienstgemeinschaft beschrieben wird, der zuvor in leitenden Positionen im Verteidigungsministerium und bei der Central Intelligence Agency gedient haben soll. Wie bei seinen früheren Artikeln, widersprechen die von seiner Quelle beschriebenen Details über den Angriff vollkommen den Belegen und Informationen, die von einer Vielzahl von anderen Quellen bisher veröffentlicht wurden.
Also, welches Szenario wird von Hershs Quelle beschrieben und inwieweit widerspricht dieses den anderen Behauptungen? Hersh behauptet, dass die Syrier am 04.04.2017 einen Treffpunkt für Islamisten mit einer von Russland gelieferten gelenkten konventionellen Bombe angegriffen haben und dass dieser Angriff zur Freisetzung von Chemikalien, darunter Chlor – jedoch kein Sarin, führte, was dann zu der Vielzahl an Opfern vom 04.04. geführt haben soll. Hershs Quelle verfügt über viele Informationen über dieses Ziel und behauptet, dass nachrichtendienstliche Erkenntnisse über diesen Ort vorab mit den Amerikanern geteilt worden waren.
Hershs Quelle beschreibt das Ziel als zweistöckiges Betonziegelgebäude, dass sich im nördlichen Teil der Stadt befunden haben soll. Im Keller des Gebäudes sollen sich Raketen, Waffen und Munition, sowie Produkte, die kostenlos an die Bevölkerung verteilt werden können, wie Medizin und chlorhaltige Mittel zur Reinigung von Verstorbenen vor der Bestattung, befunden haben. Laut Hershs Quelle war das Stockwerk darüber ein bekannter Treffpunkt und eine langjährige Einrichtung, die über Sicherheitseinrichtungen, Waffen, Kommunikationsmittel, Unterlagen und ein Kartencenter verfügt haben soll.
Die Quelle behauptet weiterhin, dass Russland diesen Ort sorgfältig überwacht hatte, dabei feststellte, dass es sich um einen Treffpunkt für Islamisten handelte und tagelang den Standort mit einer Drone beobachtete und dadurch die Nutzung des Gebäudes und die Aktivität im Umfeld bestätigte. Der Quelle zufolge wurde das Ziel am 04.04.2017 um 6:55 Uhr getroffen und eine Beurteilung des Bombenschadens durch das US-Militär soll ergeben haben, das eine syrische 500 Pfund Bombe eine Reihe von Sekundärexplosionen ausgelöst haben soll. Dies soll zur Bildung einer riesigen Giftwolke durch die Freisetzung von Düngemitteln, Desinfektionsmitteln und anderen im Keller des Gebäudes gelagerten Stoffen, geführt haben, die sich dann über die Stadt ausgebreitet haben soll. Die Wirkung der Giftwolke soll durch die dichte Morgenluft verstärkt wurden sein, welche die Giftschwaden nahe am Boden gefangen hielten.
An dieser Stelle bietet es sich an, einen Blick auf die Aussagen der syrischen und russischen Regierungen zu werfen, die diese als Reaktion auf den Vorwurf, dass Syrien Sarin über Chan Scheichun abgeworfen habe, getätigt hatten. Walid Muallem, Syrien Außenminister, sagte in einer Pressekonferenz zwei Tage nach dem Angriff, dass der erste Luftangriff um 11:30 Uhr Ortszeit erfolgt sei und dass dabei ein Waffendepot mit Chemiewaffen von al-Nusra angegriffen worden sei. Es wurde von Beobachtern zu dieser Zeit bereits angemerkt, dass dieser angebliche Angriff Stunden nach den ersten Berichten über Opfer stattgefunden hätte. Weiterhin widerspricht diese Aussage der von Hershs Quelle für den Angriff angegebenen Zeit von 6:55 Uhr, wie auch dem etwas früheren Angriffszeitpunkt, ungefähr zwischen 6:37 und 6:46 Uhr Ortszeit, der vom Pentagon veröffentlicht wurde. Außerdem hatte der syrische Außenminister das Ziel explizit als Chemiewaffenlager bezeichnet.
Russland veröffentlichte eigene Aussagen über den Angriff. Sputnik berichtete folgendes:
Konashenkov zufolge, führte ein syrisches Flugzeug am Dienstag zwischen 11:30 Uhr und 12:30 Uhr Ortszeit (8:30 – 9:30 GMT) einen Luftangriff auf ein großes Lager der Terroristen mit Munition und einer Vielzahl von militärischer Ausrüstung in den östlichen Randbereichen von Chan Scheichun durch.
Konashenkov sagte, dass die Kämpfer aus diesem Lager Chemiewaffenmunition in den Irak geliefert haben.
Konashenkov ergänzte, dass es im Gebiet des Lagerhauses eine Werkstatt zur Herstellung von Bomben mit giftigen Substanzen gegeben hat. Er merkte an, dass diese Munition mit giftigen Substanzen auch von Kämpfern im syrischen Aleppo eingesetzt wurde.
Diese russischen Behauptungen sind konsistent mit den Behauptungen ihres syrischen Verbündeten, aber nicht mit den Behauptungen, die von Hersh und seiner Quelle getätigt wurden. Im Angesicht des Vorwurfes eines Chemiewaffeneinsatzes erwähnten weder Russland noch Syrien, dass ein Islamisten-Treffpunkt angegriffen wurde. Das Ziel wird als großes Lagerhaus in den östlichen Randbereichen von Chan Scheichun beschrieben, nicht als ein zweistöckiges Betonziegelgebäude im nördlichen Teil der Stadt mit Sicherheitseinrichtungen, Waffen, Kommunikationsmitteln, Unterlagen und einem Kartenzentrum. Tatsächlich ist der einzige Punkt an dem Hershs Darstellung und die russischen und syrischen Darstellungen übereinstimmen, die Aussage, dass ein syrisches Flugzeug den Angriff durchgeführt hatte.
Darüber hinaus präsentierten bisher weder Syrien noch Russland Belege, die ihre Behauptungen unterstützen könnten. Wenn, wie Hersh behauptet, Russland die Örtlichkeit über mehrere Tage mit Dronen überwacht haben soll, dann würden sie nicht nur über die exakte Position der Örtlichkeit, sondern auch über Bildmaterial von dieser verfügen. Jedoch haben bisher weder Syrien noch Russland entsprechendes Bildmaterial veröffentlicht, noch haben sie spezifische Details über die Position des Ortes bekannt gegeben. Wenn sie dies getan hätten, wäre es einfach zu überprüfen gewesen, ob der angegebene Ort angriffen wurde, da Terraserver Satellitenbilder von Chan Scheichun von vor und nach dem Angriff hat. Gemeinsam mit Russland und Syrien hat Hershs Quelle, dass er scheinbar trotz seiner anscheinenden tiefen Kenntnis über den Angriff nicht in der Lage ist, den genauen Ort des Angriffes zu spezifizieren.
Die Tatsache ignorierend, dass die von Hersh präsentierte Version der Ereignisse im Widerspruch zu den von allen Seiten veröffentlichen Narrativen steht, kann eine Betrachtung seiner Behauptungen über die chemische Exposition sinnvoll erscheinen. Hersh bezieht sich auf eine Beurteilung des Bombenschadens durch das US-Militär ohne eine Quelle anzugeben, wonach eine Reihe von Sekundärexplosionen zur Bildung einer riesigen Giftwolke durch die Freisetzung von Düngemitteln, Desinfektionsmitteln und anderen im Keller des Gebäudes gelagerten Stoffen geführt habe, die sich dann über die Stadt verteilte. Hersh beschreibt die bei den Opfern beobachteten Symptome als konsistent mit der Freisetzung von einer Mischung von Chemikalien, darunter Chlor und die bei vielen Düngemitteln genutzten Organophosphate, welche mit Sarin vergleichbare neurotoxische Effekte hervorrufen können. Es ist wichtig anzumerken, dass Organophosphate in Pestiziden genutzt werden, jedoch nicht wie von Hersh angegeben in Düngemitteln. Es ist nicht klar, ob dieser Fehler von Hersh selbst stammt oder von seiner anonymen Quelle. Es handelt sich jedoch nicht um den einzigen Sachfehler in diesem Bericht. Hersh sagt, dass eine Su-24 für den Angriff genutzt wurde, während jede andere Quelle, einschließlich der US-Regierung, von einer Su-22 spricht.
Trotz Hershs offensichtlicher Überzeugung, dass Sarin nicht beim Angriff genutzt wurde, kommen andere Quellen, nicht zuletzt auch die OPCW, die den Auftrag hat, den Angriff zu untersuchen, zu einem anderen Ergebnis. Am 19.04.2017 veröffentlichte die OPCW eine Stellungnahme vom Generaldirektor Ahmet Üzümcü, in der die Analyseergebnisse der Proben von lebenden und verstorbenen Opfern des Angriffes, wie folgt dargestellt werden:
Die Ergebnisse dieser Analysen von vier designierten OPCW Laboren zeigen eine Exposition mit Sarin oder einer mit Sarin vergleichbaren Substanz. Obwohl noch weitere Details der Laboranalysen folgen werden, sind die bereits erzielten analytischen Ergebnisse unbestreitbar.
Ein späterer Bericht der OPCW, datiert auf den 19.05.2017, bietet weitere Analysen von Proben vom Ort des Geschehens, einschließlich geborgener toter Tiere, und aus der Umgebung. Spuren von Sarin oder mit Sarin vergleichbaren Substanzen wurden in vielen der Proben entdeckt, ebenso Abbauprodukte von Sarin. In mindestens zwei Proben wurde Sarin selbst gefunden.
Diese Ergebnisse stimmen auch mit den von der französischen Regierung veröffentlichten Geheimdienstinformationen überein, die folgendes besagen:
Die Analyse von Proben, die in der Nähe eines der Einschlagpunkte des Chemiewaffenangriffs vom 04.04.2017 auf Chan Scheichun gesammelt wurden, durch französische Experten zeigen das Vorhandensein von Sarin, von spezifischen Sekundärprodukten (diisopropyl methylphosphonate – DIMP), das während der Synthese von Sarin aus Isopropanol und DF (methylphosphonyl difluoride) gebildet werden, wie auch von Hexamin. Eine Analyse der biomedizinischen Proben zeigt ebenfalls, dass ein Opfer des Angriffes auf Chan Scheichun, dessen Blutprobe noch am Tag des Angriffes in Syrien genommen wurde, Sarin ausgesetzt gewesen war.
Basierend auf diesen und weiteren Berichten, geben mehrere Quellen im Gegensatz zu Hershs angenommener versehentlicher Freisetzung von Chemikalien an, dass Sarin beim Angriff verwendet wurde. Die Tatsache, dass sich Hersh auf keinen der anderen Berichte bezieht, kann bestenfalls als Übersehen von Schlüsselinformationen über den Charakter des Angriffes angesehen werden. Im schlimmsten Fall ignoriert er absichtlich die Informationen, die seiner Geschichte widersprechen.
Um noch einmal auf den Ort des Angriffes zurückzukommen, auch hier ist diese Unwissenheit oder das Ignorieren von ihm widersprechenden Informationen erkennbar. Open Source Material vom Tag des Angriffes, wie auch Satellitenbilderanalysen von verschiedenen Quellen (einschließlich dieses hervorragenden Artikels der New York Times), zeigen konsistent auf die gleichen Einschlagstellen. Eine von diesen ist der spezifische Krater, von dem angenommen wird, dass er die Quelle der Sarin-Freisetzung am Tag des Angriffes war. Keine der Einschlagstellen deutet auf eine wie von Hersh beschriebene Struktur hin, noch gibt es irgendwelche Anzeichen, dass die von ihm beschriebene Stelle angegriffen wurde. Journalisten waren bereits kurze Zeit nach dem Angriff in der Stadt und erwähnten keine Stelle, die zu Hershs Beschreibung passt.
Man könnte argumentieren, dass alle Einzelpersonen und Gruppen vor Ort, alle Ärzte, die die Opfer behandelt haben und jede einzelne Person, mit der Journalisten gesprochen hat, den von Hersh beschriebene Ort nicht erwähnten. Aber es gibt eine sehr einfache Möglichkeit, diesen Punkt zu klären. Jeder hat, dank der verfügbaren Bilder auf Terraserver, Zugang zu Satellitenbildern von der Stadt vor und nach dem Angriff. Hershs Quelle müsste nur die Koordinaten des angegriffenen Gebäudes liefern und jeder mit Internetzugang könnte einen Blick auf exakt diesen Punkt tätigen und das zerstörte Gebäude sehen. Es wäre ein einfacher Weg für Hersh und die Welt am Sonntag ihren Ruf zu bewahren.